Ohne eine prägende Baukultur ist das heutige vielfältige Europa nicht denkbar. Baukultur wird verstanden als die Summe aus Aktion, Organisation, Medialität und Reaktion gesellschaftlicher Interaktion mit dem Ziel der architektonischen Gestaltung von Umwelt. Sie ist eng verknüpft mit zeitgebundenen mentalen, politischen, religiösen und ästhetischen Hintergründen. Daher ist sie historisch variabel und kaum randscharf zu definieren.
Das Netzwerk wird sich einer historischen Phase widmen, in der Baukultur sich dynamisch entwickelte und zu einem bedeutenden Element sozialer Praxis wurde. Der Fokus liegt auf der nordalpinen Baukultur des Spätmittelalters, d.h. der Zeit vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Geographisch lässt sich der Untersuchungsbereich durch die in der sogenannten Regensburger Hüttenordnung von 1459 genannten Zuständigkeitsbezirke einiger „Haupthütten“ begrenzen, die in west-östlicher Richtung vom Elsass bis nach Ungarn reichten und in süd-nördlicher von den Alpen bis zu Nord- und Ostsee. Der Raum ist weitgehend, aber nicht völlig deckungsgleich mit der Germania des Römischen Reiches, da er vor allem nach Osten weit darüber hinausgreift. Historisch wird die Periode untersucht, die zwischen der Entstehung erster kodifizierter Bauorganisationen am Ende des 13. Jahrhunderts liegt und den folgenreichen strukturellen Zäsuren im 16. Jahrhundert, welches als „Auslaufphase“ betrachtet wird. Denn damals wurden in der Folge der Reformation die bis dahin tonangebenden Bauhütten der Kathedralen (z.B. Basel) aufgelöst oder (z.B. Köln) irrelevant und der Bau von großen städtischen Pfarr- und Stiftskirchen eingestellt. Gleichzeitig stiegen andere Bauaufgaben wie die Residenzkapelle oder die kostspielige Erneuerung des Festungsbaus infolge der veränderten Militärtechnik auf und neue, vorwiegend höfische Architekturdiskurse italienischen Ursprungs wurden dominanter. Daher ist mit dieser Epoche der Netzwerksarbeit eine Grenze gesetzt, wenngleich wegen erkennbarer struktureller Kontinuitäten die Anschlussfähigkeit zu anderen Forschungen gewahrt wird.
Inhaltlich wird der Untersuchungsbereich definiert als eine Epoche, in der sich eine in ihrer Komplexität qualitativ neuartige Baukultur entwickelte, wovon noch heute zahlreiche Monumente, bildliche Darstellungen wie textuelle Quellen Zeugnis ablegen. Gemeinsam dokumentieren sie, welche Bedeutung architektonischen Ausdrucksformen beigemessen wurden, zumal es sich bei der größten Menge dieser Bauten, bzw. der darauf bezogenen Quellen in andere Medien, um solche mit repräsentativer und/oder sakraler Funktion handelt: Kirchen, Rathäuser, Burgen/Schlösser, Stadtmauern etc. Das Projekt geht von der These aus, dass Fähigkeit und Wille zur visuellen räumlichen Repräsentation die Baukultur förderten und dass eine elaborierte Baukultur umgekehrt eine immer differenziertere Repräsentation für Einzelne, Gruppen und Institutionen ermöglichte. Dies spiegelt sich nicht nur am Gesamterscheinungsbild der Bauten, sondern lässt sich auch durch deren weitergehende technische und konstruktive Analyse erhellen. Zudem erlauben zahlreiche schriftliche Quellen unterschiedlicher Textsorten – von Baurechnungen bis hin zu literarischen Beschreibungen – weitergehende Einsichten. Manche Formen der Verschriftlichung im Zusammenhang mit dem Bauwesen, wie z.B. Rechnungsbücher, scheinen überhaupt erst in diesem Kontext entstanden zu sein. Sie sind Zeugnisse für einen zunehmenden Grad an technischer wie administrativer Organisation im Bauwesen, welche wiederum Ausdruck allgemeiner soziokultureller Ausdifferenzierung und Steuerung ist, diese aber auch ihrerseits beschleunigt hat. Die Phänomene reichen von zunehmend stärker kodifizierten Vereinbarungen zwischen Auftraggebern und Ausführenden – beide werden hier eher als Gruppen bzw. Institutionen denn als Individuen begriffen – bis zu eigenmächtigen Rechtssetzungsversuchen von mächtigen Bauorganisationen wie den Münsterbauhütten und Landesbauwesen, welche am Ende sogar politisch bis auf die Reichsebene durchschlugen, da sie Konflikte unter sich und mit lokalen Kräften zu provozieren vermochten, die lokal bzw. regional nicht mehr zu lösen waren. Diese Konflikte werden als Resultate von mit der differenzierteren Baukultur einhergehenden Exklusivitätsbehauptungen verstanden. Inwieweit sie mit ähnlichen Phänomenen, wie z.B. der wenig späteren Konfessionalisierung im Zusammenhang stehen bzw. als Vorzeichen zu betrachten sind, steht augenblicklich zwar nicht im Fokus des geplanten Netzwerkes, zeigt aber die potenziellen Dimensionen der Fragestellung an.